Charkow im März/April 1942

Charkow im März/April 1942
Im Mittelabschnitt der Ostfront, südlich von Charkow, war die Lage im März 1942 noch immer sehr bedrohlich. Dort hatten die Russen beiderseits von Isjum die deutsche Donez-Front achtzig Kilometer breit aufgerissen und waren 100 Kilometer westwärts vorgedrungen. Überall am Rand dieser riesigen Beule in der deutschen Front waren bis weit in den April hinein erbitterte Abwehrkämpfe im Gange.  Noch immer war es bitter kalt, um 40 Grad herum, und so ging der Kampf in jeder Hinsicht ums nackte Leben - um jedes Dorf, jedes Gehöft wurde gerungen; nur wer ein Haus, einen wärmenden Ofen für ein, zwei Stunden Schlaf fand, hatte eine Überlebenschance. Während noch überall solche Kämpfe tobten, begann im Oberkommando der Wehrmacht (OKW) die Planung für die nächste Offensive. Denn darüber war man sich schon vorher einig geworden: Der naheliegenden Neigung, den schweren Rückschlägen des Winters erst einmal zu konsolidieren, zu warten, die Russen kommen lassen, durfte, so Hitler, aber auch seine Generale wie auch der Chef der Operationsabteilung, Heusinger, die Initiative nicht aus der Hand geben, den Russen, die in der bitteren Winterschlacht schliesslich auch stark, zahlenmässig sogar mehr geblutet hatten, keine Zeit lassen - also: Angriff Wieder auf Moskau - meinte Generalstabschef Halder. Doch davon wollte Hitler nichts hören. Er stellte wirtschaftliche Überlegungen in den Vordergrund: Das kaukasische Öl (Baku) müsse Stalin weggenommen werden, und dann,so Hitlers Plan, gleich weiter nach Persien, zu einer Zangenbewegung kontinentalen Ausmasses: Im Süden, nämlich Nordafrika, könnte dann Rommel quer durch die arabische Wüste bis zum Persischen Golf vorrollen, auch das arabische Öl einkassieren. Ehe der Angriff beginnen konnte, musste allerdings die Front endgültig bereinigt und stabilisiert werden. Das gelang bis Anfang Mai - nur bei Isjum blieb eine weit nach Westen vorspringende Beule, die noch vor dem Hauptangriff beseitigt, sozusagen abgekniffen werden musste. Das sollte, beginnend am 18. Mai, die 6. Armee und die Armeegruppe Kleist als Zangenpaar besorgen. Doch auch Marschall Timoschenkos Interesse konzentrierte sich auf den Frontbogen von Isjum; für ihn war eine hervorragende Ausgangsstellung für einen Umfassungsangriff auf die deutsche 6. Armee im Raum Charkow. Und Timoschenko war schneller als sein deutscher Kollege von Bock, er griff am 12. Mai an, und zwar mit geradezu überwältigender Kraft: Den nördlichen Arm seiner Umfassungszange bildete die 28. sowjetische Armee, die mit 16 Divisionen, drei Panzerbrigaden und zwei mot.-Brigaden aus dem Raum Woltschansk nach Südwesten vorstiess. Noch gewaltiger war die Streitmacht, die aus dem Frontbogen bei Isjum als südlicher Zangenarm hervorbrach: Zwei Armeen, die 6. und die 57. mit insgesamt 44 Divisionen und 14 Panzerbrigaden! Gegen diese Übermacht war so gut wie nichts zu machen. Zwar gelang es General Paulus mit seiner 6. Armee, den nördlichen Zangenarm Timoschenkos knapp 50 km vor Charkow festzuhalten, doch der enorm starke südliche Stosskeil war durch nichts und niemanden aufzuhalten. Die Russen überrollten die dünnen deutschen Linien und stürmten unaufhaltsam westwärts - am 16. Mai näherten sie sich bereits Potawa, wo sich, über 100 km im Rücken von Charkow, Generalfeldmarschall von Bocks Hauptquartier befand. Die Lage war bedrohlich.  Durch Timoschenkos überraschende Offensive war der deutsche Angriffplan undurchführbar geworden: Die 6. Armee hatte mehr als genug mit der 28. sowjetischen Armee zu tun und fiel für den ihr zugedachten Part aus. Die Frage war, ob man es riskieren konnte, den ursprünglich beabsichtigten Zangenangriff auch einarmig, nur mit der Armeegruppe Kleist, zu führen. Bock, gedrängt von seinen Stabschef, General von Sodenstern, wagte es schliesslich, zog den Angriffstermin sogar einen Tag vor und schickte Kleist mit seinen neun Infanterie- und drei Panzerdivisionen am 17. Mai 1942 nordwärts.  Es war eine waghalsige und deshalb nicht erwartete Antwort auf den sowjetischen Angriff. Zu spät erkannte Timoschenko, was sich in den Rücken seiner westwärts stürmenden Armeen zusammenbraute. Als er begriff, war es zu spät: Kleist Divisionen waren durch seine weiche Flanke hindurchgestossen, hatten am 22. Mai bei Bairak am Donez Anschluss an die 6. Armee gefunden - Timoschenkos zwei Armeen waren abgeschnitten. Dem Sowjetmarschall blieb gar nichts anderes übrig, als seinen Angriff abzubrechen, kehrtzumachen und sich zu den eigenen Linien zurückzukämpfen. Die Frage war, ob die relativ schwachen deutschen Kräfte dem Rückwärtsdruck Timoschenkos standhalten konnten, ob die dünne Kesselwand halten würde. Der Mann, dessen Aufgabe es war, Timoschenko den Rückweg unmöglich zu machen, war General von Mackensen, Kommandierender General des 3. Panzerkorps, dem einige zusätzliche Infantriedivisionen unterstellt waren. Mackensen spielte Kessel-poker. Er wusste, wie rücksichtslos die Russen in verzweifelten Situationen angreifen, er wusste, dass unter solchen Druck die dünne Kesselwand irgendwo nachgeben musste. Mackensen staffelte seine Verbände optimal, und er tat ein übriges - er hielt eine ganze Division, die 1. Gebirgsdivision unter General Lanz, sozusagen als Kesselflicker in Reserve. Diese Vorsicht entschied die Schlacht. Timoschenkos Divisionen keilten sich tatsächlich mit aller Gewalt und unter nachgerade irrsinnigen Verlusten bei Losowenka durch die deutsche Sperrfront. Sie glaubten den Weg zu der nur 40 km entfernten, rettenden russischen Donez-front frei - doch die 1. Gebirgsdivision war rechtzeitig dazwischen. Der Kampf wurde mörderisch, doch der deutsche Riegel hielt, Timoschenkos Armeen kamen nicht zurück, nach drei Tagen waren sie erledigt, 240 000 Rotarmisten schleppten sich erschöpft in die Gefangenschaft, liessen 1250 Panzer und 2016 Geschütze auf dem Schlachtfeld zurück. Aus der drohenden Niederlage war unversehens ein wuchtiger Sieg geworden.